8.

Über Nacht waren zwei Bullen aus ihrer separaten Weide ausgebrochen und hatten sich unter die Kühe mit den Kälbern gemischt. Simon, der eigentlich in die Berge fahren und beim Aufbau des Camps helfen sollte, musste dableiben, um mit dem alten Mann die beiden Tiere wieder einzufangen.

Boyd saß am Küchentisch, rauchte und schlürfte seinen Kaffee. Er erzählte, dass er schon zweimal von einem Bullen angegriffen worden war. »Einmal konnte ich mich nur mit einem Hechtsprung unter den Truck retten und das andere Mal konnte ich den wütenden Bullen nur davon abhalten, mich auf die Hörner zu nehmen, indem ich ihm eine Gewehrkugel in den Kopf jagte.«

Julia sah die wachsende Panik in Simons Augen, aber der alte Mann lachte. »Nur keine Angst, Cowboy«, sagte er. »Die beiden Jungs sind ganz friedlich. Sie sind bloß sauer darüber, dass sie für eine Weile nicht zu den Ladys dürfen. Das ist doch verständlich, oder?« Er klopfte Simon auf die Schulter und schüttete sich aus vor Lachen.

Hanna, die wenig Lust verspürte, sich von ihrer Schwiegermutter erneut den ganzen Tag gnadenlos umherscheuchen zu lassen, nutzte die Gelegenheit. Sie schlug Ada vor, mit Julia in die Berge zu fahren und an Simons Stelle beim Aufbau des Camps zu helfen. Das war Ada recht und sie ließ die beiden ziehen.

Julia sah Simon dem alten Mann hinterhertrotten und ahnte, wie gerne er mit ihnen gekommen wäre. Stattdessen musste er auf Bullenjagd gehen.

Als Julia mit ihrer Mutter auf dem Versammlungsplatz ankam, hatte sich schon einiges verändert. Blaue Dixi-Klos standen am Wegesrand und zwischen den silbrig grünen Beifußsträuchern leuchteten die ersten bunten Zelte. Viele Gäste waren heute schon angereist und halfen beim Aufbau. Julia nahm an, dass die meisten von ihnen Indianer waren, auch wenn es ihr bei einigen Leuten schwerfiel, das mit Sicherheit zu sagen.

Ein Mann mit offenem rotem Hemd war dabei, eine riesige Antenne aufzustellen. Julia wunderte sich, als ihre Mutter bei seinem Anblick lächelte und zielstrebig auf ihn zuging. Auf seinem Kopf trug er ein leuchtend gelbes Tuch. Er hatte einen grauen, geflochtenen Bart und einen bauschigen Zopf im Nacken. Dieser Mann war definitiv kein Indianer.

»Hallo, Govinda«, sagte Hanna.

Der Mann musterte sie aus lebhaften grauen Augen und plötzlich erschien ein Anflug von Erkennen in seinem Blick. »Hanna? Ist das möglich?«

»Ja, ich bin es wirklich.« Sie umarmten einander herzlich. »Das ist Julia, meine Tochter.«

Der Mann mit dem merkwürdigen Namen schüttelte Julia lächelnd die Hand. »Schön, dich kennenzulernen.« Dann wandte er sich wieder an ihre Mutter und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Hanna, das mit John...Estut mir so entsetzlich leid.« Govinda umarmte Hanna noch einmal und dann nahm er auch Julia in die Arme.

Sie machte sich steif.

»Gut, dass ihr hier seid und an der Zeremonie teilnehmen könnt«, sagte Govinda schlicht.

»Ja, ich bin auch froh darüber.«

Julia betrachtete ihre Mutter voller Verwunderung. Meinte sie das wirklich? Schließlich wusste Julia nur zu gut, dass Hanna an jedem Ort der Welt lieber wäre als hier, in der trockenen Halbwüste Nevadas zwischen irgendwelchen Beifußbüschen.

»Können wir dir helfen?«, fragte Hanna.

»Ja, das wäre toll. Mein Sohn Ian sollte das eigentlich tun, aber ich habe keine Ahnung, wo er sich im Augenblick herumtreibt.«

Govinda erklärte ihnen, in welchen Abständen große Eisenhaken in die Erde gedreht werden mussten, um daran dann später die Halteseile für eine Funkantenne zu befestigen.

Als er für einen Moment außer Hörweite war, fragte Julia ihre Mutter: »Wer zum Teufel ist das?«

»Govinda?«

»Ja, wer sonst?«

»Er lebt in Kalifornien, ist aber meistens mit seinem Truck unterwegs. Govinda kommt jedes Jahr zum Sommertreffen und stellt seine technische Ausrüstung zur Verfügung. So können Radioaufnahmen gemacht werden und kleine Videotapes.« Sie deutete auf die Eisenstäbe und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Er sorgt dafür, dass die Stimmen der Indianer an die Öffentlichkeit gelangen.«

»Und wieso heißt er Govinda?«

Hanna hob die Schultern. »Soweit ich weiß, stammte sein Vater ursprünglich aus Deutschland und hatte sein Leben dem Buddhismus gewidmet.«

Govinda kam auf sie zu, einen jungen Mann mit Dreadlocks an seiner Seite, und Julia musste sich mit der Antwort vorerst begnügen. »Hanna, Julia, ich möchte euch meinen Sohn Ian vorstellen.«

Sie schüttelten einander die Hände. Ian trug Sneakers und enge Jeans. Kein T-Shirt. Er hatte eine Brad-Pitt-Figur, braun gebrannte Haut und Augen, die in einem hellen Blau leuchteten.

»Wie ich höre, wird meine Hilfe gebraucht.« Ian zeigte ein strahlendes Lächeln, und ehe Julia sich versah, hatte er sie mitgezogen und in ein Gespräch verwickelt. Ian war ein sprudelnder Quell für wilde Theorien. Beispielsweise plädierte er dafür, dem Kalender eine andere Einteilung zu verpassen. Man bräuchte die Tage nur um einige Stunden zu verkürzen und am Ende würde mehr Freizeit für jeden Einzelnen dabei herauskommen. Julia verstand die Logik zwar nicht, aber es gefiel ihr, Ian zuzuhören.

In seinem Beisein kam ihr die Hitze nicht mehr so schlimm vor und die Arbeit machte plötzlich Spaß. Hin und wieder hörte sie sich laut lachen. Es fühlte sich verkehrt an, wenn sie lachte, und doch tat es gut.

Am späten Nachmittag fuhr ein großer Pick-up-Truck auf den Platz und der Mann, der aus der Fahrerkabine stieg, riesig wie ein Bär und mit einem schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf, wurde von allen Seiten mit fröhlichem Hallo begrüßt.

»Das ist Dominic, der Koch«, klärte Ian Julia auf. »Jetzt gibt es neue Arbeit.«

Von allen Seiten kamen Leute herbeigeeilt, um gemeinsam das große Küchenzelt aufzubauen. Julia staunte, wie viele Menschen sich bereits eingefunden hatten.

Wie gut kannten sie einander? Würden sie und Hanna unter den anderen auffallen? Julia hörte dem Lachen und den Gesprächen zu. Sie beobachtete, wie ein weiterer Truck vorfuhr und seine Insassen herzlich begrüßt wurden. Ein jeder packte mit an und bald herrschte ein reges Treiben auf dem Platz.

Die Männer luden das Metallgestänge und die große Plane vom Pick-up des hünenhaften Kochs und er erläuterte, wie das Gestell montiert werden musste.

Ein hagerer Mann um die vierzig, mit langem Pferdeschwanz und freundlichen braunen Augen, kam auf Julia zu und stellte sich ihr vor. Es war Frank Malotte.

»Tut mir furchtbar leid, das mit deinem Dad«, sagte er. »Ich habe John sehr gemocht. Wir haben ziemlich viel Unfug getrieben, als wir in deinem Alter waren.« Er schüttelte traurig lächelnd den Kopf.

Julia hätte gerne Genaueres über diesen Unfug erfahren, den ihr Vater und sein Cousin angestellt hatten, aber Frank wurde gebraucht. Nachdem das Metallgestell zusammengesetzt und die Verstrebungen verschraubt waren, wurde eine riesige Plane darübergezogen. Die Männer verankerten die Halteleinen und die Frauen begannen damit, die einzelnen Teile der Plane mit Schlaufen zusammenzuknüpfen.

Im Lauf des Nachmittags wurde die Hitze immer unerträglicher. Julia war erschöpft, hungrig und von oben bis unten dreckverschmiert. Trotzdem fühlte es sich gut an, mit den anderen zu arbeiten. Teil dieser bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft zu sein, war eine vollkommen neue Erfahrung für sie. Julia konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal so lebendig und nützlich gefühlt hatte.

Die Sonne stand schon tief über dem Horizont, als Jason plötzlich auf dem Versammlungsplatz auftauchte. Er war mit seiner Mutter gekommen, einer mageren Frau mit dunklem, offenem Haar und eingefallenen Wangen. Ihre schwarzen Augen glühten wie im Fieber, als sie mit Jason auf Julia zukam. Vielleicht war Veola Temoke früher mal schön gewesen, jetzt sah sie abgehärmt und verbittert aus.

Julias Herz klopfte schneller. Bei ihrer letzten Begegnung war Ja-son freundlich gewesen, aber wie würde er sich im Beisein seiner Mutter ihr gegenüber verhalten? Sie hatte keine Ahnung, worauf sie sich gefasst machen musste.

»Hi, Schwesterherz«, sagte Jason, ohne erkennbare Regung im Gesicht. »Darf ich dir meine Mutter vorstellen? Mom, das ist Julia.«

Julia erhob sich und musterte Veola abwartend.

»Hallo«, sagte die Indianerin, reichte ihr die Hand und lächelte verkrampft. Es war, als würde Julia einen toten Fisch in der Hand halten.

»Hallo«, sagte nun auch Julia, »freut mich, Sie kennenzulernen.« Es war keine Freude, höchstens Neugier, aber wenn man fremd war, hielt man sich besser an die Höflichkeitsregeln.

Keine von beiden wusste, was sie sagen sollte. Veolas unsteter Blick irrte an Julia vorbei über den Platz. Schließlich entdeckte die Indianerin jemanden, den sie kannte, und verabschiedete sich von Julia mit einem Nicken.

Jason, der diesmal ein blau-weißes Kopftuch trug, fragte: »Brauchst du Hilfe?«

»Sehe ich vielleicht so aus?«

»Ja.« Er lachte.

Es war das Lachen ihres Vaters, es waren die Augen ihres Vaters. Julia musste schlucken.

Ihre Granny hatte gesagt, dass Jason nicht gut auf sie zu sprechen war. Wenn das stimmte, dann gab er sich große Mühe, seine Abneigung zu verbergen. Julia musste an seine abfälligen Bemerkungen Simon gegenüber denken. Irgendwie traute sie Jason nicht. Es war, als ob seine Freundlichkeit ihr gegenüber nur aufgesetzt, nur Fassade war, unter der in Wahrheit etwas ganz anderes brodelte.

Aber sie wollte das Angebot ihres Bruders nicht ausschlagen. Denn um die jeweils letzte Schlaufe über den dafür vorgesehenen Eisenhaken zu ziehen, brauchte man Kraft, und die hatte sie schon seit einigen Stunden nicht mehr.

Jason kniete im Gras und erledigte die Aufgabe mit Leichtigkeit. Sie sah, wie seine Muskeln sich spannten. Er war stark wie ihr Vater. Wie sein Vater.

Während Jason Julia half, begann er zu plaudern. Fragte, wie lange sie schon hier sei, auf dem Versammlungsplatz. Ob es ihr auf der Ranch gefallen würde und wie lange sie zu bleiben vorhätte.

Julia spürte erleichtert, wie ihr Misstrauen ihm gegenüber nachließ. Wenn er sie anlächelte oder ihr ein Kompliment machte, schien er es ernst zu meinen. Sie hatte den Eindruck, dass Jason sie wirklich kennenlernen wollte.

Vorsichtig erzählte sie ihm, dass die Ranch anders war, als sie es sich vorgestellt hatte. »Ich weiß nicht mal, ob Granny mich mag.«

»Das tut sie«, erwiderte Jason. »Sie kann es bloß nicht zeigen.«

»Nächste Woche Mittwoch werden wir nach Kalifornien weiterfahren. Ma hat eine Freundin in San Francisco.«

»San Francisco ist cool.« Jasons Augen begannen zu leuchten. »Dad hat mich mal mit dorthin genommen.«

Julia hoffte, dass Jason noch ein wenig mehr von ihrem Vater erzählen würde, aber er beschränkte sich auf die Robben vor der Küste und die tollen Kneipen im Hafen von San Francisco. Kein Wort mehr über ihren gemeinsamen Vater. Als ob er das Thema absichtlich mied.

Doch Julia drängte es, mehr über Jasons Gefühle zu erfahren, schließlich war er ihr Bruder. Sie fasste sich ein Herz.

»Bestimmt hast du ihn sehr vermisst. Ich meine... unseren Vater.«

Für einen Moment wurde Jasons Blick hart, seine gute Laune schien verflogen und Julia bereute ihre Frage. Vielleicht war es dafür noch zu früh gewesen.

Aber Jason holte tief Luft und sagte: »Ich habe einfach nicht kapiert, dass auf einmal ein ganzer Ozean zwischen mir und meinem Dad liegen sollte.« Seine Stimme hatte plötzlich den Klang eines traurigen Kindes.

»Wann hast du denn erfahren, dass es mich gibt?«

»Da war ich zwölf.« Jasons Pupillen waren schwarze Stecknadelköpfe.

»Hast du mich gehasst?«

»Und wie.«

»Tust du es noch?«

»Nur ein bisschen.«

Julia sah ihn bestürzt an, da lachte er und sagte: »Das war nur Spaß, Schwesterherz. Du kannst doch nichts für deine Mutter.«

»Meine Mutter?«

»Sie hat sich an Dad rangemacht, obwohl sie wusste, dass er verheiratet war und Kinder hatte.«

Julia hielt in ihrer Arbeit inne. »Pa hat gesagt, er wäre damals schon nicht mehr mit deiner Mutter zusammen gewesen.«

Jason winkte ärgerlich ab. »Sie hatten so ihre Probleme, das stimmt. Aber die haben andere auch. Wäre deine Mutter nicht dazwischengeraten, wäre Dad zu uns zurückgekommen.«

Nach dem, was Julia inzwischen über ihren Vater erfahren hatte, war das durchaus möglich und sie widersprach Jason nicht. Sie hatte sechzehn Jahre mit einem wunderbaren Vater verbracht und Jason hatte sechzehn Jahre lang Sehnsucht nach einem wunderbaren Vater gehabt.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Ach was, du kannst ja schließlich nichts dafür.« Jason hatte die letzte Schlaufe über den Haken gezogen und rieb seine Handflächen aneinander. »Fertig.«

»Danke. Das war sehr nett von dir.«

Vielleicht mochte er es nicht, für nett befunden zu werden, denn Jason erhob sich und fragte: »Wo ist eigentlich der Stotterheini? Ist er gar nicht mitgekommen?«

»Nein. Zwei Bullen sind abgehauen und Simon musste Grandpa helfen, sie wieder einzufangen.« Julia sah ihrem Bruder in die dunklen Augen. »Sag mal, kann es sein, dass du Simon nicht sonderlich magst?«

Jason machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was. Der Stotterheini ist doch nicht ganz richtig im Kopf. Ohne die Almosen von Granny und Grandpa wäre er längst verhungert.« Er tippte mit zwei Fingern an seine Stirn. »Man sieht sich, Schwesterherz.«

Julia blickte Jason nach, wie er davonging, mit dem typischen Gang ihres Vaters. Er schritt weit aus, auf die schnelle, lautlose Art, wie schon ihre Vorfahren vor Hunderten von Jahren diese Gegend durchstreift haben mussten.

»Na, hast du dir einen jungen Krieger angelacht?«

Julia wirbelte herum. Hinter ihr stand Ian. Schwarze Schmutzstreifen zogen sich durch sein sonnenbraunes Gesicht, die aussahen wie

Kriegsbemalung.

»Jason ist mein Bruder«, sagte sie. »Mein Halbbruder.«

Ian nickte nachdenklich. »Jetzt, wo du es sagst, fällt mir die Ähnlichkeit auch auf.« Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern leicht über ihre Wange. »Du bist ganz schwarz im Gesicht.«

Julia lächelte. »Und du erst! Sieht so aus, als wärst du auf dem Kriegspfad.«

Ian zog ein rotes Halstuch aus der Hosentasche und wischte über sein Gesicht. »Weg?«

Sie deutete auf eine Stelle unter seinem Haaransatz. »Da ist noch was.«

Er gab Julia das Halstuch und streckte ihr sein Gesicht entgegen. »Mach du mal.«

Julia rubbelte den Dreck von seiner Stirn. »Eine warme Dusche wäre jetzt nicht schlecht«, sagte sie.

»Der Wasserbüffel ist noch nicht da.«

»Der was?«

Ian grinste. »Der Wassertank. Er müsste längst hier sein. Ich glaube, es gab Probleme mit einem platten Reifen.«

»Auf der Ranch gibt es leider auch kein warmes Wasser«, bemerkte Julia seufzend.

»Aber die heißeste Badewanne der Welt«, sagte Ian. »Frag mal deine Granny.«

Er blickte über Julias Schulter und knüllte das Tuch wieder in die Tasche. »Sag mal, kennst du den? Der guckt schon seit einer ganzen Weile zu uns rüber.« Er nickte in die Richtung, in der einige Fahrzeuge geparkt waren.

Julia entdeckte Simon, der gegen den braunen Pick-up lehnte, Pepper zu seinen Füßen.

»Das ist Simon. Er arbeitet auf der Ranch meiner Großeltern.«

»Sieht so aus, als ob er dir etwas zu sagen hätte«, bemerkte Ian.

»Vielleicht gehst du mal hin. Wir sehen uns dann morgen. Und ver

giss nicht, deine Granny nach der Badewanne zu fragen.«

»Bestimmt nicht.«

Ian umarmte sie kurz, was Julia überraschte, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und lief zum Zelt seines Vaters.

Julia winkte Simon und ging auf ihn zu.

Schon eine ganze Weile hatte er zugesehen, wie Julia mit Jason am Küchenzelt gearbeitet hatte. Wider Erwarten verstanden sich die beiden gut. Und auch wenn Simon das Bauchschmerzen verursachte, war es in Ordnung so. Schließlich waren sie Bruder und Schwester. Familie. Etwas, das er nie gehabt hatte.

Dass Julia sich mit ihrem Bruder verstand, konnte er verschmerzen. Aber dann war dieser blonde Hippie aufgetaucht und hatte ihre Wange gestreichelt. Gleich darauf hatte sie sich an seinem Gesicht zu schaffen gemacht.

Als Simon merkte, wie vertraut Julia und der andere Junge waren, verstand er die Welt nicht mehr. Zuerst spürte er einen merkwürdigen Druck auf der Brust und plötzlich traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er hörte seinen Herzschlag im Kopf und seine Hände begannen zu zittern.

Julia kam jetzt lächelnd auf ihn zu. Simon kämpfte gegen das Chaos in seinem Inneren, weil er wusste, dass er in diesem Zustand kein vernünftiges Wort herausbringen würde. Seine Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben wie ein dicker Klumpen.

Eigentlich war Simon völlig kaputt gewesen, nachdem die beiden kräftigen Bullen endlich wieder auf ihrer separaten Weide standen und der Zaun geflickt war. Trotzdem hatte er sich noch auf den Weg in die Berge gemacht, weil er wusste, dass Dominic bereits hier war. Simon hatte sich seit Wochen darauf gefreut, seinen Freund endlich wiederzusehen.

Pepper entdeckte Julia, humpelte ihr entgegen und umkreiste sie freudig bellend. Als er sie in seinem Übermut zwicken wollte, pfiff Simon ihn zurück.

»Hey«, sagte Julia, als sie Simon gegenüberstand. Ihre Zähne blitzten weiß aus dem staubigen Gesicht. Sie sah müde und glücklich aus. Letzteres war offensichtlich der Begegnung mit diesem blonden Typen zuzuschreiben.

Das sollte dir vollkommen egal sein, Simon.

Er sah sie an, ganz kurz nur. »Hey«, brachte er mühsam heraus. Und noch ein unversehrtes Wort: »Schick.« Er deutete auf ihr T-Shirt.

Julia blickte an sich herunter. Ihr sonnengelbes T-Shirt war mit geheimnisvollen dunklen Mustern bedruckt, die an Zeltschlingen erinnerten. Wieder lächelte sie.

Wie schön sie ist, wenn sie lacht, dachte Simon, und konnte kaum noch normal atmen.

»Sieht so aus, als w-äre es ein harter Tag g-g-gewesen.«

»Allerdings. Ich bin völlig erledigt. Jetzt eine leckere Pizza, ein heißes Bad und ab ins Bett.« Sie sah ihn an. »Und wie war dein Tag?«

»Bin so gut wie tot.«

Simon sah, wie Julias Augen sich verdunkelten, und bereute seine gefühllose Ausdrucksweise. Er hatte geredet, ohne zu denken. Verlegen stocherte er mit seinen Schuhen im staubigen Boden, überlegte, was er sagen könnte, damit sie wieder lächelte.

»Ohne Pferde ist es schwierig, die Bullen von den K-K-Kühen zu trennen.«

Neugierig sah sie ihn an. »Wem gehören denn die Pferde, die manchmal auf die Ranch kommen?«

»Deinen Großeltern. Aber sie sind halb wild. N-ur ein oder zwei sind eingeritten. Es hätte den halben Tag gedauert, sie einzufangen.«

»Kannst du denn reiten?«

»Klar.«

Simon entdeckte so etwas wie Bewunderung in ihrem Blick und diese Tatsache gab ihm etwas von seinem Selbstvertrauen zurück. Er streckte sich und drückte die Schultern nach hinten. Gerade wollte er Julia fragen, ob sie Pferde mochte, da sah er Hanna zielstrebig auf sie zukommen.

»Hallo, Simon«, sagte sie. »Sind die Bullen wieder da, wo sie hingehören?«

»Ja. Alles w-ieder okay.«

»Das ist gut.« Hanna wandte sich an ihre Tochter. »Wie sieht es aus, Julia? Wollen wir nach Hause fahren? Ich bin müde und kaputt.«

Julia zuckte mit den Achseln.

»Wir sehen uns m-orgen«, sagte Simon.

»Ja. Dann bis morgen.«

Die verborgene Seite des Mondes
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